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Die Grenzen der Zivilisation
Author(s) -
Oberlin Gerhard
Publication year - 2006
Publication title -
orbis litterarum
Language(s) - German
Resource type - Journals
SCImago Journal Rank - 0.109
H-Index - 8
eISSN - 1600-0730
pISSN - 0105-7510
DOI - 10.1111/j.1600-0730.2006.00851.x
Subject(s) - philosophy , humanities
An die jüngste Forschung anknüpfend, expliziert und begründet der Aufsatz die folgenden Thesen: Das Symbol der monumentalen Mauer in ihrer strategischen Schwäche stellt sich als das paradoxe Produkt eines Sicherheitswahns dar, wie er die Ausprägung zivilisatorischer Lebensformen begleitet. In der Überwertigkeit der Güter, in der Begründung autokratischer Staatsformen manifestiert sich der falsche Glaube an die Steigerung der Lebenssicherheit durch Besitz und staatliche Autorität. Im dialektischen Widerspiel dazu wächst die Angst um das Erworbene, die paranoide Züge annehmen kann. Gleichzeitig nimmt der Bedarf an illusionären Sinnstiftungen, wie z.B. der Figur eines Kaisers, zu. Die Illusion von Schutz, Schutzwürdigkeit und Bedrohung geht mit einem hohen Potential an existentieller Beunruhigung einher. Die repressive Gleichschaltung aller Ziele und Antriebe zum Zweck der Bewahrung erzeugt ein massenpsychologisches Irresein, das kollektiven Wahn, Aggression und extreme Verführbarkeit hervorbringt. Kafka lässt in diesem Modell vor allem individuelle Mündigkeit und Verantwortlichkeit als Voraussetzungen seelischer Gesundheit und intakten Realitätssinns, ja als Grundbedingung geglückter Zivilisation überhaupt erscheinen und fokussiert damit neben den Gefährdungen die individual‐ und sozialpsychologischen Voraussetzungen der aufgeklärten Selbstbestimmtheit. Als Ursache der kollektiven Untergangsbedrohung rücken die kulturtradierten Autoritätsstrukturen in den Blick, und Euphorie und Schrecken des Ersten Weltkriegs werden in den 1917 entstandenen Erzählungen gleichermaßen im Modell verständlich.