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Zwischen Geschichte und Naturgeschichte ‐Versuch über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung mit Anmerkungen zu Kasack, Nossack und Kluge.
Author(s) -
Sebald W. G.
Publication year - 1982
Publication title -
orbis litterarum
Language(s) - German
Resource type - Journals
SCImago Journal Rank - 0.109
H-Index - 8
eISSN - 1600-0730
pISSN - 0105-7510
DOI - 10.1111/j.1600-0730.1982.tb01046.x
Subject(s) - humanities , art , philosophy
Der Essay ‘Zwischen Geschichte und Naturgeschichte’ versucht die längst überfällige Frage zu beantworten, weshalb die von Millionen Deutschen in den letzten Kriegsjahren miterlebten Luftangriffe auf deutsche Städte und die von dieser Zerstörung katastrophalen Ausmasses bewirkte radikale Veränderung der gesellschaftlichen Lebensformen in der deutschen Literatur kaum je behandelt wurde. Abgesehen von literaturkritischen Fragen kommen dabei ökonomische, politische, sozialpsychologische und naturhistorische Dimensionen ins Spiel. Die Untersuchung nimmt ihren Ausgang von Hans Erich Nossacks 1943 geschriebenem Text Der Untergang , der bis zu dem Zeitpunkt, da Alexander Kluge in seinen Neuen Geschichten den Luftangriff auf Halberstadt beschrieb (1977), der einzige Text war, der die hier in Rede stehende Thematik sich vorgesetzt hatte. An Nossacks Prosastück wird deutlich, dass die literarische Beschreibung totaler Zerstörung leicht in die Gefahr gerät, die Erfahrung einer über allen Begriff grauenhaften Wirklichkeit in mythisierenden Konjekturen zu kompensieren. In diesem Zusammenhang wird auch auf Hermann Kasacks Roman Die Stadt hinter dem Strom , einen für das kollektive Bewusstsein der unmittelbaren Nachkriegszeit überaus repräsentativen Text Bezug genommen, weil an seinem Beispiel die Tendenz der Literatur zur symbolischen Verkleidung konkreter Schrecken besonders gut ablesbar ist. Im Gegensatz zu Kasacks inzwischen recht ambivalentem Werk, zeigt Nossacks Text unter anderem, wie die richtig erst seit dem Beginn der sechziger Jahre sich entwickelnde dokumentarische Schreibweise, die der Fiktionalisierung der Realität entgegenarbeitet, die Möglichkeit einer authentischen literarischen Reflexion von Erfahrungen eröffnet, die mit traditionellen Formen des Erzählens nicht mehr vereinbar sind. Dass die Formen, vermittels derer die Literatur der extremen Wirklichkeit unserer Zeit begegnen kann, einen Literaturbegriff voraussetzen, der weniger an der Kategorie des Werks als am Prozess des Schreibens sich orientiert, das soll im weiteren Verlauf der Analyse an Kluges Text über den Luftangriff auf seine Heimatstadt belegt werden, einem Text, der nicht nur potentiell, wie derjenige Nossacks, sondern ganz intentional als eine andere Literatur angelegt ist.