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“Die Kindermörderin”. Ein bürgerliches Trauerspiel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Author(s) -
Haupt Jürgen
Publication year - 1977
Publication title -
orbis litterarum
Language(s) - German
Resource type - Journals
SCImago Journal Rank - 0.109
H-Index - 8
eISSN - 1600-0730
pISSN - 0105-7510
DOI - 10.1111/j.1600-0730.1977.tb00727.x
Subject(s) - philosophy , art
Ästhetisch‐moralische Vorurteile ‐ bis heute ‐ gegen »Die Kinder‐mörderin« (1776) von H. L. Wagner beruhen wesentlich auf der sozialkritischen Thematik und realistischer Darstellung kleinbürgerlichermilienproblematik (Familienzerfall): Selbstverwirklich‐ung (Liebe) und Selbstunterdrückung (Angst) sind ein Dilemma des »empfindsamen« Protestantismus (Vater‐Tochter‐Beziehung). Die insgesamt positive Beurteilung durch die zeitgenössische Literatur korrespondiert mit Wagners Selbstauffassung als (justiz‐) kritischer Aufkläarer, eine Tradition mit (literarischer) Weiter‐wirkung (Hebbel, Hauptmann, Fr. Wolf). Wagner will die Realität in inhrer Totalität darstellen; der radikale Natur‐Begriff des »Sturm und Drang« ‐ in der Nachfolge S. Merciers, Rousseaus ‐ impliziert politisch die Bevorzugung des Kleinbürgertums (Entwicklung zum »innerbürgerlichen Trauerspiel«), dessen Wider‐ sprüche stärker herausgestellt werden als der (von Lukács zu sehr betonte) »Klassenkampf.« Die unterschiedliche Rezeption in der zeitgenössischen Literaturkritik beruht auf den (zusammenhan‐ genden) Natur‐ und Moral‐Begriffen unterschiedlicher Aufklärungs‐Phasen. Das Bürgertum bevorzugt das nempfindsamea Element: Entsprechende Rettungs‐ und Bearbeitungsversuche des Dramas durch K. Lessing und (komödienhaft) durch Wagner selber. Die deutsche Literaturwissenschaft (u.a. Gervinus, Scherer, Gundolf, Newald) hat das Drama oberflächlich verurteilt. Eine sozialistische Bearbeitung (P. Hacks, 1963) rehabilitiert den Realisten Wagner; problematische Umdeutungen berühren das Problem »richtiger Aktualisierung« (Bloch).