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Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit vokalpolyphoner Musik und Musikpraxis im kolonialen Brasilien des 16. bis frühen 18. Jahrhunderts steht die Musikhistoriografie vor einem gravierenden Problem: Es gibt keine Noten aus dieser Zeit, die sich einer originär brasilianischen Provenienz zuordnen ließen. Abhandlungen zur Musik dieses Zeitraums müssen in der Regel im Deskriptiven oder in der Beschreibung und Analyse musikalischer Aufführungskontexte verbleiben und können sich nicht um eine Betrachtung musikalischer Exempel, wie sie doch für die mittlerweile global geprägte Musikhistoriografie zum Grundwerkzeug gehört, bemühen. Dieser vermeintliche ›Malus‹ betrifft dabei nicht nur Brasilien, sondern weite Teile des portugiesischen Imperiums in Afrika und Asien, in denen sich keinerlei Musikalien erhalten haben, aus denen für den genannten Zeitraum Details über das Repertoire, die Transferwege, die Bedingungen des Musizierens vor Ort oder die aus der Art des Repertoires zu schlussfolgernde künstlerische Potenz einzelner Kolonien, Städte oder Kirchgemeinden zu deduzieren wären.1 Im vorliegenden Beitrag sollen am Beispiel Brasiliens einige Überlegungen angestellt werden, wie trotz der Absenz von Noten eine Geschichte der vokalpolyphonen Musik in dieser Kolonie zu schreiben sein könnte. Mit Hilfe von zeitgenössischen Sekundärquellen aus Brasilien selbst wie auch aus dem Mutterland Portugal werden einige Möglichkeiten und philologische Wege skizziert, wie das anzunehmende vokalpolyphone Musikleben im kolonialen Brasilien vor allem ab der Mitte des 16. Jahrhunderts ausgesehen hat, welche Akteure hieran beteiligt waren, wie der Transferprozess zwischen Europa und insbesondere Portugal und der Kolonie ausgesehen haben könnte und schließlich, welches Repertoire an den Kirchen, Kollegien und Missionsstationen des Landes auf Basis der gewonnenen Indizien wenn auch nicht eindeutig bestimmbar, so doch wenigstens ein Stück weit einzugrenzen ist.

Überlegungen zum Transfer vokalpolyphoner Musik aus Portugal nach Brasilien im 16. und frühen 17. Jahrhundert